Gehe hin, stelle einen Wächter von Harper Lee.
Mit ihrem ersten veröffentlichten Werk »Wer die Nachtigall stört« gelang der US-Amerikanischen Autorin Harper Lee 1960 ein Welterfolg, der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und auch verfilmt wurde. Ihr Erstlingswerk »Gehe hin, stelle einen Wächter« jedoch galt lange Zeit als verschollen, bis es im letzten Jahr wiederentdeckt wurde.
Wir treffen darin erneut auf Charaktere aus »Wer die Nachtigall stört.« Jean Louise lebt mittlerweile seit 20 Jahren in New York und kehrt jedes Jahr für zwei Wochen in ihr Zuhause zurück. Mit herrlich bissiger Ironie wird von Scouts Rückkehr erzählt, von ihrer Konfrontation mit den konservativen Ansichten ihrer Tante Alexandra, die sich mittlerweile um Scouts unter Arthritis leidenden Vater kümmert und von der Gemeinde. Von ihren Treffen mit dem Gehilfen ihres Vaters in der Kanzlei, Henry, den ihre Tante für nicht gut genug für sie hält, und von ihrem entsetzten Wahrnehmen der Konflikte um die Rechte der Schwarzen in den Südstaaten.
Unterbrochen werden die Ereignisse während ihres Urlaubs immer wieder von Rückblenden in Scouts, Kindheit, die auch kurz auf Ereignisse aus »Wer die Nachtigall stört« hinweisen.
Den Rassenkonflikt erlebt man vor allem aus Sicht von Scout, die in New York einen toleranteren Umgang mit der Thematik gewohnt ist und nun auf die festgefahrenen Ansichten ihrer Heimat trifft und die Welt nicht mehr versteht, als plötzlich auch ihr Vater an Versammlungen mit Rassisten teilnimmt und Schriften des Ku-Klux-Klans liest.
Lee bettet diese Auseinandersetzung auch in den immer noch schwelenden Konflikt zwischen Nord- und Südstaaten ein, die selbst entscheiden wollen, wie sie mit den Schwarzen umgehen. Generell geht die Autorin mit dieser Thematik sehr differenziert um, zeigt die sehr facettenreichen Positionen auf, was das Buch ehrlicher und realistischer als »Wer die Nachtigall stört« erscheinen lässt. Der vermeintliche Held Atticus wird gestürzt, wird zu einem Menschen mit Fehlern und Schwächen und auch Scout ist bei aller Toleranz im Verhältnis zu ihren Mitmenschen nicht frei von Rassedenken.
Stärker empfand ich jedoch das Buch bei der Herausstellung der Abnabelung Scouts von ihrem Vater und ihrer Heimat. Scout macht ihre letzten Schritte in Richtung Erwachsenenleben und muss erkennen, dass ihr Vater, den sie immer vergöttert hat und dessen Ansichten auch die ihren waren, auch nur ein Mensch mit ganz normalen Schwächen ist, von dem sie sich lösen und mit dessen Positionen sie sich kritisch auseinandersetzen muss.
Der Autorin gelingt ein eindrucksvoller Appell an die Entwicklung eines eigenen Gewissens: »Die Insel eines jeden Menschen, Jean Louise, der Wächter eines jeden Menschen ist sein Gewissen. So etwas wie ein kollektives Gewissen gibt es nicht. […] und du, die du mit einem eigenen Gewissen geboren wurdest, hast es irgendwann an das deines Vaters geheftet, wie eine Klette. Als Heranwachsende, als Erwachsene hast du deinen Vater mit Gott verwechselt, ohne es selbst zu merken. Du hast ihn nie als einen Mann mit dem Herzen und den Schwächen eines Mannes gesehen. Zugegeben, vielleicht waren Letztere schwer zu erkennen, weil er so wenige Fehler macht, aber er macht sie, genau wie wir alle. Du warst ein emotionaler Krüppel, hast dich auf ihn gestützt, Antworten von ihm übernommen, geglaubt, dass deine Antworten immer seine Antworten sein würden.« (Seite 299/300).
Auf keinen Fall sollte man sich aus Angst, sich die »Nachtigall« zu verderben davon abhalten lassen den »Wächter« zu lesen. Beide Bücher sind unabhängig voneinander lesbar, aber sicher vielschichtiger genießbar und verstehbar, wenn man zuerst die »Nachtigall« liest.
Und kaum hatte ich die ersten Sätze aus »Gehe hin, stelle einen Wächter« gelesen, fühlte ich mich wieder in die Atmosphäre der »Nachtigall« zurückversetzt. Ich hatte fast das Gefühl, die sommerwarme Hitze von Maycomb auf der Haut zu spüren und durch die Rückblicke ins Chaos Kindheit, war die ganze Stimmung vom Vorgängerbuch gleich wieder gegenwärtig. Die gegenwärtigen Schilderungen wiederum sind beklemmender, aufwühlend, aber auch authentischer – denn welcher Mensch ist nicht fehlbar? Macht die Geschichte Atticus nicht einfach menschlicher?
Dies wird auch durch die veränderte Erzählerstimme deutlich. Jetzt spricht nicht Scout, als Ich-Erzähler, wie bei der »Nachtigall«, sondern es ist eine externe Erzählerstimme, die über die Vorkommnisse berichtet. So verliert die Handlung gezwungenermaßen die kindliche Naivität. Und wir als Leser können eher entscheiden, ob wir wirklich in allen Punkten mit Scout einverstanden sind, ihre Meinung teilen oder vielleicht doch die Beweggründe ihres Vaters verstehen können oder nicht – denn schließlich müssen auch wir Leser unser eigenes Gewissen befragen und für dieses einstehen.
Für mich war »Gehe hin, stelle einen Wächter« daher, ein wirklich tolles und intensives Leseerlebnis.
Unbedingt lesen!
Beide Bücher von Harper Lee »Wer die Nachtigall stört« und »Gehe hin, stelle einen Wächter« sind in der Bücherei ausleihbar.
Empfohlen und gelesen von G. Kuen